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Ein Ethischer Kompass

I. Grundlagen

1. Einführung und thematischer Rahmen

Im Zentrum der 9. Triennale stehen drei Leitbegriffe – Alliance (Verbundenheit), Infinity (Unendlichkeit) und Love (Liebe) –, die allesamt in der ethischen Philosophie von Emmanuel Levinas verankert sind. Seine Schriften über die Verantwortung gegenüber der*dem Anderen bilden eine zentrale theoretische Grundlage des Festivals.

Alliance meint in diesem Kontext die Kraft der Verbundenheit durch die Anerkennung der Unterschiedlichkeit. Das Festival versammelt diverse, divergierende und Zwischenstimmen der Fotografie und schafft einen Raum, um „das Vertraute und das Unvertraute“ (Mark Sealy) in der kulturellen Produktion zu erkunden – insbesondere in Bezug auf Rechte und Repräsentation.

Infinity spiegelt die grenzenlosen Möglichkeiten des Menschseins und die unendliche Fähigkeit zu gütigem Handeln wider. Der Begriff ist ein Hinweis auf die unzähligen Realitäten, die wir bewohnen, und weckt die Sehnsucht nach einem neuen visuellen Paradigma. Dieses soll ermöglichen, dass unterdrückte Stimmen untrennbarer Teil unserer vernetzten Realität werden, in der sich einschränkende Grenzen auflösen und befreiende Zukünfte erdacht werden können.

Love wird in Anlehnung an die Autorin bell hooks nicht als romantisches Gefühl verstanden, sondern als bewusste und politisch wirksame Handlung – eine aktive Kraft, die sich gegen Angst und Entfremdung stellt. Innerhalb dieser kuratorischen Vision wird Liebe zum Motor für den Wandel in der Fotografie: eine Abkehr von visuellen Praktiken, die in Systemen der Unterdrückung verwurzelt sind, hin zur Fotografie als Akt der Gemeinschaft und der kulturellen Wiedergutmachung.

2. Präambel: Ein lebendiges Dokument

Dieser Text bietet einen sich weiterentwickelnden ethischen Rahmen für die 9. Triennale. Er beruht auf dem zentralen Thema Alliance, Infinity, Love – in the Face of the Other (Verbundenheit, Unendlichkeit, Liebe – im Angesicht des Anderen).

Wir verstehen die 9. Triennale als einen inklusiven Raum des Dialogs. Die Leitbegriffe stehen für die Prinzipien, denen wir in unserer Arbeit gerecht werden wollen.

Inspiriert von Emmanuel Levinas’ Ethik, Mark Sealys kuratorischer Vision, Frantz Fanons, bell hooks’ und Mahatma Gandhis Befreiungslehren sowie der sanften Weisheit des Songs Nature Boy, zeigen uns diese Überlegungen einen Weg: zu sehen und zu bezeugen, zu lernen und zu verlernen – und uns verwandeln zu lassen.

Ein Ethischer Kompass ist keine feste Richtlinie, sondern ein lebendiges Werkzeug. Er bietet einen dynamischen Orientierungsrahmen, der sich mit der Zeit erweitern und verändern darf.

Er gibt Impulse für den Umgang mit Bildern, die uns herausfordern, irritieren oder bewegen.

Zugleich lädt er dazu ein, jedem Werk – und auch einander – mit Verantwortung, Bescheidenheit und Liebe zu begegnen.

II. Prinzipien

1. Eine sanfte Ethik

„The greatest thing you’ll ever learn is just to love and be loved in return.“
(Lieben und geliebt zu werden, das ist das Größte, was man erfahren kann.)
– Aus Nature Boy, geschrieben von eden ahbez, gesungen von Nat King Cole

Im Einklang mit dem kuratorischen Konzept beginnen wir diese ethische Reise mit dem Song Nature Boy. Die Botschaft von Liebe und Menschlichkeit lässt uns Zärtlichkeit als radikale Geste begreifen.

Wir üben uns in Langsamkeit und Achtsamkeit. Innehalten und Gegenwärtigkeit sind uns ebenso wichtig wie kritische Auseinandersetzung. Unser Ziel ist es, einen Raum der Sanftheit zu schaffen – geprägt von den Künsten, Erinnerung und jener schöpferischen Kraft, die uns bewegt und an unsere Menschlichkeit und Verantwortung erinnert.

2. Unendlichkeit, Repräsentation und das Recht auf Opazität

„Das Unendliche lässt sich nicht fassen, sondern ruft uns stets über uns hinaus.“
– Emmanuel Levinas

„Wir fordern das Recht auf Opazität für alle.“
– Édouard Glissant

„Jeder Mensch hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.“
– Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 6

Im Zentrum unserer Überlegungen steht das Bewusstsein, dass kein Bild, kein Text, keine Ausstellung die Ganzheit eines Menschen oder eines Volkes zu fassen vermag. Wir würdigen, was sich der Darstellung entzieht: das Heilige, das Ungesehene, das Unbegreifliche. Wir erkennen an, dass die ethischste Handlung manchmal darin besteht, zu schweigen, Raum zu lassen und nicht zu wissen.

Eine solche ethische Zurückhaltung ist eng verbunden mit Édouard Glissants „Recht auf Opazität“. Sie verlangt Akzeptanz: Nicht alles muss gesehen, übersetzt oder erklärt werden. Manches Wissen gehört uns nicht. Manche Bedeutungen bleiben unserem Zugriff entzogen, und das ist legitim. Der Ausstellungsraum ist nicht dazu da, alles begreifbar oder konsumierbar zu machen.

Wir widersetzen uns der kolonialen Forderung nach Transparenz – jene Forderung, die kulturelle Komplexität reduziert, um sie leichter verständlich oder klassifizierbar zu machen.

Wir kuratieren mit Respekt vor Differenz, vor dem, was sich unserer Einordnung entzieht. Wir schätzen das Ungesagte, das Verschlüsselte und Unverschlüsselbare, das Verborgene sowie das kulturell Spezifische.

Zeug*innenschaft bedeutet hier, eine sanftere Beziehung einzugehen: wahrnehmen, ohne zu vereinnahmen; interagieren, ohne zu extrahieren.

Diese Grundsätze prägen unser Verständnis von Repräsentation: als Verantwortung und als echte Verpflichtung zur Fürsorge.

3. Kulturkritik und die Politik der Repräsentation

„Jedes Imperium erzählt sich selbst und der Welt, dass es anders sei als alle anderen Imperien.“
– Edward W. Said

Kulturelle Repräsentation ist nie neutral. Sie ist geprägt von Vorgeschichten der Macht und von der Frage, wer spricht und für wen. Wir untersuchen diese Strukturen kritisch und lehnen Darstellungen ab, die imperialer Nostalgie dienen, Differenz romantisieren oder das Andere als statisch und begreifbar inszenieren. Stattdessen setzen wir auf kooperative, wechselseitige Formen des Austauschs, die auf Einverständnis beruhen.

Das Recht auf Selbstrepräsentation – insbesondere für jene, die kolonisiert, verdrängt oder unsichtbar gemacht wurden – ist grundlegend für jede ethische Auseinandersetzung mit Kultur.

4. Über Fürsorge und Verantwortung gegenüber der*dem Anderen

„Das Antlitz spricht mit mir und fordert mich dadurch zu einer Beziehung auf.“
– Emmanuel Levinas

„Wir müssen die visuelle Logik des Imperiums stören.“
– Mark Sealy

Jede Begegnung mit Kunst ist auch eine Begegnung mit anderen – mit ihren Geschichten, ihren Vergangenheiten, ihrem Schmerz und ihrer Freude. Solche Momente sind niemals neutral. Bilder tragen Macht und Erinnerung. Sie prägen, wie wir die Welt sehen.

Ihnen zu begegnen bedeutet nicht nur, sie zu betrachten, sondern aktiv mit ihnen in Beziehung zu treten – mit Verantwortung und Achtsamkeit für die Geschichten, die sie in sich tragen, sowie für die Strukturen, die sie verstärken.

Das bedeutet, Herrschaft, Besitzanspruch und Deutungshoheit zu hinterfragen, und anzuerkennen, dass es immer etwas Unbegreifliches zwischen dem eigenen Selbst und der*dem Anderen gibt. Es bedeutet, visuelle Systeme herauszufordern, die von Machtstrukturen wie Kolonialismus und rassistischer Gewalt geprägt sind, und jene Stimmen ins Zentrum zu rücken, die historisch ausgelöscht oder falsch dargestellt wurden.

Für uns bedeutet mit Fürsorge zu handeln also nicht, sich etwas anzueignen oder es aufzulösen, sondern Raum zu lassen.

5. Befreiung und psychologische Emanzipation

„Es ist vielleicht noch nicht genügend darauf hingewiesen worden, daß der Kolonialismus sich nicht damit begnügt, […] das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen.“
– Frantz Fanon

Kunst kann ein Ort der Heilung sein – ein Raum, der sich den psychischen Verletzungen durch Kolonialismus und systemische Gewalt zuwendet. Der Ausstellungsraum darf niemals Leid ästhetisieren – er muss Widerstand, Heilung und Erneuerung unterstützen. Befreiung erfolgt nicht nur politisch, sondern auch psychisch und spirituell.

6. Gewaltfreiheit und Liebe als Praxis

„Die Mittel gleichen einem Samen, das Ziel einem Baum.“
– Mahatma Gandhi

„Liebe ist das, was Liebe tut. Liebe ist ein Willensakt – nämlich sowohl eine Absicht als auch eine Handlung.“
– bell hooks

Wir laden alle an der 9. Triennale Beteiligten – Institutionen, Künstler*innen, Besucher*innen, Unterstützer*innen und Mitarbeitende – dazu ein, jede Form visueller, sprachlicher und institutioneller Gewalt abzulehnen. Der Weg zur Versöhnung beginnt mit Anerkennung, Reue und Wiedergutmachung.

Liebe ist in diesem Zusammenhang nichts Sanftes. Sie ist eine radikale ethische Haltung. Liebe ist Praxis. Wir begegnen unserer Arbeit mit Fürsorge, Wahrhaftigkeit und dem Mut, Raum für Verletzlichkeit freizuhalten. Mit Liebe kuratieren heißt, die Würde, die Trauer, die Freude und die Geschichte jedes Menschen zu achten.

Wir erkennen an, dass alle Institutionen von historischen und aktuellen Machtstrukturen geprägt sind. Darum bleiben wir offen für Kritik, verwehren uns einer moralischen Einzigartigkeit und weigern uns, unsere Arbeit als unantastbar darzustellen. Ethische Integrität verlangt, dass wir immer wieder prüfen, wie auch wir, bewusst oder unbewusst, Teil jener Systeme sein könnten, gegen die wir uns wenden.

7. Auf dem Weg zu kollektiver Befreiung

Wir akzeptieren keine rassistischen oder antisemitischen Zuschreibungen und lehnen jede Form von Diskriminierung aufgrund von ethnischer Herkunft, Nationalität, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, chronischer Krankheit, Alter, Sprache, Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung oder sozialem Status ab.

Black Consciousness

„Schwarz zu sein ist keine Frage der Pigmentierung – es ist der Ausdruck einer inneren Haltung.“
– Steve Biko

Wir unterstützen das Recht auf Selbstrepräsentation und lehnen die Vermarktung von Leiden und Kampf ab.

Geschlechterfreiheit und Selbstbestimmung

Wir glauben an das Recht jedes Menschen, die eigene Geschlechtsidentität frei und ohne Angst zu leben und auszudrücken. Trans, nichtbinäre, queere und geschlechterüberschreitende Perspektiven sind nicht marginal – sie sind unverzichtbar für jeden Raum, der sich als ethisch versteht.

Nichtbehinderung, Behinderung und Zugänglichkeit

Behinderung ist kein Defizit, sondern ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Vielfalt. Indem wir die Kreativität, Weisheit und Widerstandskraft von behinderten Communitys sichtbar machen, bejahen und begrüßen wir die Unterschiedlichkeit.

Kinder, Jugendliche und besonders schutzbedürftige Personen

Wir erkennen die gemeinsame Verantwortung an, das Wohl aller Menschen zu schützen, die mit unserer Arbeit in Berührung kommen. Wir handeln in Übereinstimmung mit dem deutschen Kinder- und Jugendschutzgesetz, sowie dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Fürsorge, Verantwortlichkeit und Respekt vor der Integrität jeder Person leiten unser Handeln.

III. Lebendige Ethik

1. Praktiken der ethischen Begegnung

Diese Überlegungen sind nicht bloß theoretisch. Ethik ist nicht abstrakt: Sie ist verkörpert, gelebt. Die folgenden Gedanken sind Einladungen zu Aufmerksamkeit, Demut und Fürsorge im Moment der Begegnung:

  • Sei offen für Unbehagen
    Lass schwierige Werke Deine Gewissheiten hinterfragen. Lass sie Deine Annahmen brechen.
  • Erkenne Deine Position
    Du bist nicht neutral. Sei Dir bewusst, was Du mitbringst und wie es formt, was Du siehst und wie Du gesehen wirst.
  • Halte Ungewissheit aus
    Widerstehe dem Impuls, das Unvertraute zu erklären oder zu beheben. Lass Unterschiede bestehen.
  • Hör großzügig zu
    Hör aufmerksam zu. Nicht um zu kritisieren, sondern um zu verstehen. Um Raum zu schaffen. Um das Unbekannte zu würdigen.
  • Respektiere Kontexte
    Jedes Werk hat eine Geschichte. Jedes Bild eine Herkunft. Lerne von ihnen.
  • Komm mit Großzügigkeit und Fürsorge
    Bilder von Leid sind keine Spektakel. Begegne dem Unbekannten mit Würde und Zurückhaltung.
  • Lass die Begegnung von Dauer sein
    Was hier geschieht, endet nicht hier. Nimm die Fragen mit.

2. Fragen zur Selbstreflexion

Da dieser Ethische Kompass kein starres Regelwerk ist, sondern dem Rhythmus der Reflexion folgt, fragen wir uns immer wieder:

  • „Wessen Geschichte wird erzählt – und wer bestimmt, wie sie erzählt wird?“
  • „Trägt dieses Werk zur Heilung oder zur Ausbeutung bei?“
  • „Ist dieser Ort ein Raum der Kontrolle oder der Fürsorge?“
  • „Steckt Liebe in unserer Art zu zeigen, zu sprechen und uns mitzuteilen?“
  • „Habe ich Raum geschaffen, um das Unendliche zu empfangen?“

Wir glauben, dass die 9. Triennale der Photographie Hamburg 2026 nicht nur nicht nur ein Raum der Präsentation ist, sondern ein Raum der Transformation.

Nicht nur einen Raum für Kunst, sondern für Alliance, Infinity, Love – in the Face of the Other (Verbundenheit, Unendlichkeit und Liebe – im Angesicht des Anderen).

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Hier könnt ihr euch den Ethischen Kompass herunterladen.